„In der ersten Klasse hieß es noch: Guten Morgen Kinder. Danach nur noch ‚Heil Hitler‘.“ Horst Heckmann aus Mülheim, Jahrgang 1928, gibt dem AES 10er-Jahrgang ein Stimmungsbild des Dritten Reichs, das er als Kind miterlebt hat. Er berichtet, wie der Religionsunterricht sich allmählich in antijüdische Schulung verwandelte. Gemeinsam mit anderen Zeitzeugen besucht Heckmann ehrenamtlich Schulklassen.

Zeitzeugen aus Mülheim berichten von ihrer Jugend im Dritten Reich: (v.l.) Horst Heckmann, Jahrgang 1928, Ursula-Ulrike Storks, Jahrgang 1939, und Manfred Zabelberg, Ansprechpartner und Organisator der ehrenamtlichen Vorträge.
Er erinnert sich noch gut an Hitlers schnarrende Stimme aus den Lautsprechern: „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“ Aber er ist auch ehrlich genug zu sagen, dass die Hitlerjugend auf Jugendliche wie ihn Faszination ausübte: „Der Reiz war die Uniform.“ Auch die Aktivitäten wie „militärischer Drill und Sport“ kamen gut an. „Wir fühlten uns gut aufgehoben“, räumt der 97-Jährige ein.
Heckmann, der als 17-Jähriger noch als Panzergrenadier an die Ostfront musste, hat als einer der Wenigen überlebt. Er landet bei seiner Mutter in Thüringen, bleibt ein paar Jahre in der DDR, um dann festzustellen: „Eine Diktatur hat mir gereicht.“ Er meldet sich in seiner Heimatstadt Mülheim beim Bergbau.
Ursula-Ulrike Storks wurde 1939 in Mülheim geboren, ein gutes halbes Jahr vor Kriegsausbruch. Sie erlebt als kleines Mädchen einen Tieffliegerangriff auf ihren Zug, sieht Granateneinschläge, Feuer, tote Menschen. Sie verschüttet die Milchration ihrer Familie, weil sie sich bei einem Bombenangriff flach auf die Straße werfen muss.

„Man musste sich beschäftigen, damit die Zeit verging.“ Ursula Storks zeigt ein Püppchen, für das sie damals Kleidung gehäkelt hat.
Die kleine Ursula geht mit gepacktem Koffer zu Bett für den Fall, dass sie nachts beim Bombenalarm in den Bunker muss. Die Essensrationen waren extrem knapp bemessen. „Ich habe mich oft vor Hunger in den Schlaf geweint“, erzählt die Zeitzeugin. Der Vater schickt Lebensmittel aus Ostpreußen, wo er als Soldat stationiert ist. „Die hatten da mehr Zuteilung als wir hier.“
Als der Krieg vorbei ist, sieht sie zum ersten Mal amerikanische Soldaten. Sie sind freundlich und schenken den Kindern Süßigkeiten. Ursula Storks: „Einmal winkten sie uns heran und baten uns, Kinderlieder zu singen. Wir fanden es sehr komisch, dass die Männer dann geweint haben und uns Bilder ihrer eigenen Kinder zeigten.“
Stille im Klassenraum. Wie konnte sich ein ganzes Land derart von „Lügen, Größenwahn und Menschenverachtung“ mitreißen lassen? Horst Heckmann gibt zu bedenken: „Die einzigen Informationsquellen waren Radio und Lautsprecher in den Straßen.“ Aber sind wir heute denn so viel weiter? Wie leicht ist es, irgendeine Absurdität im Netz zu posten und binnen weniger Stunden Tausende von sogenannten Followern dafür zu gewinnen. Die beiden Zeitzeugen sind sich einig: „Leider scheint die Menschheit nicht mehr aus der Geschichte lernen zu wollen. Es ist Wachsamkeit angesagt. Seid misstrauisch, damit die Demokratie uns erhalten bleibt!“

Ursula Storks‘ Erinnerungskoffer mit familiären Erinnerungsstücken und Zuteilungskarten. Rechts die Menge an Nahrungsmitteln für eine dreiköpfige Familie.
Die Jugendlichen wirken überwältigt von den bewegenden Schilderungen mit den vielen meist schrecklichen Details. „Das war sehr viel“, sagt einer von ihnen. „Das muss ich erst mal sacken lassen.“
Michael Rausch