Fynn zieht den Schaber über das lackierte Fichtenholz. Bräunlicher Spirituslack löst sich, es duftet nach Harz. Der Resonanzboden des betagten Flügels muss neu lackiert werden, und Fynn trifft in seinem Praktikum dazu die nötigen Vorarbeiten. Sein Traum ist die Arbeit als Klavierbauer: „Hier kann ich meine musikalischen und handwerklichen Fähigkeiten verbinden.“ Der Klavierbaubetrieb „KlavierEck“ bietet ihm die Möglichkeit, in seinen Traumberuf hinein zu schnuppern.
Fynn ist einer von über 90 Jugendlichen, die gerade ein dreiwöchiges Praktikum zur Berufsorientierung der AES-Jahrgangsstufe 9 absolvieren. Die Arbeitswelt steht sozusagen schon vor der Tür. Gut, wenn man dann schon eine Ahnung hat, wie sich das Leben nach der Schule anfühlt. Dabei kann man seine Neigungen testen, aber auch neue Einblicke gewinnen und sogar Vorurteile abbauen. Nicht unwichtig, wenn die Entscheidung ansteht, wie der eigene Bildungsweg weitergehen soll. Interessant dabei: Nach einer aktuellen OECD-Studie konzentriert sich eine Mehrzahl der Jugendlichen nach wie vor auf die zehn Berufe, die seit Jahren bei ihnen ganz oben auf der Liste stehen: Mädchen bevorzugen die sozialen Berufe, die Jungs wollen Informatik, Mechatronik oder Maschinenbau.
Da fällt Fynn allerdings ziemlich aus dem Rahmen. Doch er wirkt glücklich und ausgeglichen. Seine Materialien: Hölzer und Metalle, seine Umgebung: ruhig und unaufgeregt, seine Kenntnisse: beachtlich. Er erklärt die Teiltöne einer schwingenden Saite, weiß, dass der Saitenzug zwischen 10 und 15 Tonnen betragen kann, bearbeitet Fichtenholz sowie Harthölzer wie Ahorn, Buche und Eiche – er ist in seinem Element: „Ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg.“ Klavierstimmer Gregor Braß, der den Jugendlichen betreut, kann das bestätigen: „Er ist sicher ein Kandidat für den Beruf.“ Fynn freut sich sichtlich. Sein Eindruck von der Arbeitswelt: „Es ist schon anstrengend, aber schön anstrengend.“
Holz ist auch das Lieblingsmaterial von Lina, die in der Heisinger Schreinerei Fiering ihr Praktikum absolviert. „Ich habe schon als Kind mit unserem Nachbarn immer Holzarbeiten gemacht.“ Gerade schleift sie einen Picknick-Tisch für Kinder mit dem Schwingschleifer. Die Ecken muss sie von Hand mit Sandpapier nacharbeiten. Einen Bürojob kann sie sich nicht vorstellen: „Ich kann nicht gut stillsitzen und ich mag frische Luft.“ Beste Voraussetzungen also, wenn man auch zu Außenterminen unterwegs ist. Gleich soll es zu einer Baustelle gehen, wo ein hölzerner Wintergarten gebaut wird. Da sind Materialkenntnis, Handarbeit und durchaus auch voller körperlicher Einsatz gefordert. Zu schwer für ein Mädchen? „Alles Quatsch“, meint die Schülerin. „Körperlich ist das alles machbar. Und schwere Sachen werden sowieso zu zweit getragen.“
Musik tönt von der Decke der Boutique, ein Kunde sucht nach Schuhen und spricht Tyler an. Der weiß Rat und zeigt, was Peek und Cloppenburg im Sortiment hat. Er arbeitet selbstständig und berät Kunden beim Einkauf. Vorher hat er allerdings bereits die Deko-Abteilung und das Lager durchlaufen, hat an der Kasse gestanden und ist jetzt im Verkauf. „Ich interessiere mich für Mode und wollte bei einem großen Unternehmen arbeiten“, erklärt der Schüler. „Ich habe sehr viel gelernt.“ Er ist ein Teil des Teams geworden und konnte bei der Präsentation der Ware eigene Ideen verwirklichen. Tyler berichtet von einem prima Klima: „Wir duzen uns hier alle.“ Das Team mag ihn sehr, ist zu hören. Und auch wenn es „in den ersten zwei, drei Tagen anstrengend war, den ganzen Tag zu stehen“ – es geht ihm richtig gut in seiner Lieblingsbranche.
„Mir geht es super“, schwärmt Celine am Empfang beim TÜV Nord. „Ich bin sehr positiv überrascht, weil Büroarbeit eigentlich nie mein Plan gewesen war.“ Doch dann hat sie ihren Arbeitgeber kennengelernt, die Verwaltungsstruktur, die internen Abläufe, hat verschiedene Felder durchlaufen und arbeitet gerade am Empfang und in der Telefonzentrale. Da muss man kontaktfreudig sein. „Kein Problem“, meint die Praktikantin, „ich rede gerne“. Sie empfängt Besucher, zeigt ihnen die Konferenzräume und ist in solchen Momenten gleichsam das Gesicht des Unternehmens. Da trägt sie Verantwortung, ein Begriff, der ihr vom AES-Schulmotto her bekannt ist: „Verantwortung für sich und andere übernehmen.“ Anfänglich hatte sie schon Bammel vor der neuen Aufgabe, aber sie hat sehr schnell gemerkt, „dass man hier nicht immer strammstehen“ muss. „Hier herrscht eine richtig schöne Arbeitsatmosphäre“, lautet ihr Kompliment an den Arbeitgeber. Ihre Zeit sei sehr schnell vorbei gegangen. Ist sie abends zum Umfallen müde? Die Antwort: ein klares „Nö“.
Gestaltung hat sich Charlotte ausgesucht. Sie bearbeitet gerade Himbeeren mit Photoshop für ein Projekt. Ihr Arbeitgeber ist Deck5, eine Firma, die Industriedesign für unterschiedlichste Bereiche entwickelt von Getränkepräsentation bis zu Medizintechnik Sehr vielseitig, wie Mitinhaber Dietmar Dix erklärt. Das sieht auch Charlotte so: „Hier kann ich kreativ sein und meine Ideen einbringen.“ Es gefällt ihr, dass im Entstehungsprozess erst einmal alle unterschiedlichsten Ideen mit in einen Topf kommen, ohne Vorsortierung. Gerade lernt sie das nötige digitale Handwerkszeug kennen und weiß abends, was sie getan hat: „Die ersten Tage war ich abends sehr müde.“ Die Arbeitszeiten sind ungewohnt und so ganz anders als die Unterrichtszeiten der Schule.
Michael Rausch