Blick über den Tellerrand

Es gibt ihn noch, den Girls‘ and Boys‘ Day und das wohl zu Recht. Denn auch sie gibt es immer noch: die typischen Männer- und Frauenberufe. An diesem speziellen Tag versuchen Jungen und Mädchen der achten Jahrgangsstufe, mal über den Tellerrand und in die Berufe hinein zu blicken, die für gewöhnlich vom jeweils anderen Geschlecht bevorzugt werden. Die Mädchen wünschen sich Berufe im Dienstleistungssektor, etwa als Fachangestellte in Medizin, Hotelgewerbe, Verwaltung und Handel sowie akademische Berufe wie Ärztin oder Lehrerin. Ähnlich traditionell sieht es bei den Jungen aus: Hier dominiert auf der Wunschliste seit Jahren der Kfz-Mechatroniker vor Informatiker, Elektroniker und Mechaniker.

Emily setzt ein Ventil in eine Felge ein.

Vier gestandene Männer in der Autowerkstatt Potthoff. Für einen Arbeitstag ist Emily ihre „Kollegin“, in Arbeitskleidung mit Sicherheitsschuhen, wie sich das gehört. Gesprächsfetzen fliegen hin und her, es wird zugepackt, Reifen gestemmt, Werkzeuge gereicht. Ganz klar eine Männerwelt, oder? Der Werkstattmeister weist lächelnd auf eine Frau, die mit einem PKW beschäftigt ist: „Die TÜV-Ingenieurin.“ Sie macht gerade eine Abnahme. So eindeutig ist es dann ja wohl nicht. Einer der Mitarbeiter erzählt von seiner Bundeswehrzeit, als die ersten Frauen in Uniform auftauchten. Das ist schon lange kein Aufreger-Thema mehr.

Auch Emily fremdelt keineswegs mit ihrer Umgebung. Sie hat bereits eine Kennzeichenbeleuchtung repariert und Reifen montiert. Gerade setzt sie Ventile in eine Felge ein. Berührungsängste gibt es bei ihr nicht, aber sie weiß, warum immer noch mehr Männer in dieser Berufssparte arbeiten. Es sind die Gewichte, die es immer wieder zu stemmen gilt. Die sind nicht ohne. Was Emily hier aber gegenüber dem täglichen Schulbetrieb zu schätzen weiß: „Hier kann ich mir die Aufgaben aussuchen.“

Leo im Labor mit typischem Werkzeug: Reibschale und Pistill. Jede Apotheke stellt pharmazeutische Produkte auch selber her.

Leo schnuppert heute mit zwei Mitschülern in den Alltag der Werdener Hirsch Apotheke. Weiße Kittel wehen durch die Räume. Ein Frauenberuf? Canan Dogan, pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin, die die drei Jungen heute betreut, übt einen von mindestens sechs Apotheken-Berufen aus. Und der ist überwiegend in Frauenhand. Ihre Vermutung dazu: „Es liegt wohl an der Bezahlung.“ Männer erwarten höhere Einkommen und bessere Aufstiegsmöglichkeiten.

Leo hat sich bereits in der Logistik umgetan und mitbekommen, wie Nachschub und Bestellungen organisiert sind. Auch im Labor wurden er und seine Mitschüler mit den Abläufen vertraut gemacht. Dort werden Salben, Lösungen, Tropfen und vieles mehr nach genauen Vorgaben der Rezeptur hergestellt. Leo genießt den Tag ohne Schule. Er hat beobachtet, dass die weiße Berufskleidung bei den Kunden Respekt bewirkt. Und: „Hier sind Menschen, die sehr viel von dem verstehen, was sie tun.“ Sein dreiwöchiges Betriebspraktikum in der Jahrgangsstufe 9 will er auf jeden Fall in einer Apotheke leisten.

Michael Rausch